8 Mythen über die Widerspruchslösung
MYTHOS 1: DIE WIDERSPRUCHSREGELUNG HAT KEINEN EINFLUSS AUF DIE ZAHL DER ORGANSPENDEN.
Die Widerspruchsregel gilt in 25 europäischen Ländern. Fast alle dieser Länder haben deutlich höhere Organspende-Zahlen als wir – und das seit Jahrzehnten. In Spanien sind es die meisten. Eine Meta-Analyse aus sieben Studien zeigt: nach Einführung der Widerspruchsregelung steigt die Zahl der postmortalen Organspenden um bis zu 76% und die entsprechenden Transplantationszahlen erhöhen sich so um bis zu 83%. [1] Umgekehrt bedeutet das: Es wird viel mehr transplantiert. Im Gegensatz zu Deutschland sinkt dadurch die Zahl derjenigen, die auf der Warteliste versterben, erheblich.
MYTHOS 2: DIE HOHE ZAHL AN ORGANSPENDEN IN SPANIEN HAT MIT DER DORTIGEN WIDERSPRUCHSREGELUNG NICHTS ZU TUN. DIESER ERFOLG LIEGT AN DEM DORTIGEN GESUNDHEITSSYSTEM.
In Spanien wurde 1979 die Widerspruchsregel eingeführt und erst zehn Jahre hatte Spanien so hohe Spenderzahlen. Doch das hat eine historische Ursache. 1979 hatte Spanien die Franco-Diktatur gerade erst hinter sich gelassen und musste sich grundlegend erneuern. Gesundheit wurde nun ein Leitwert der spanischen Verfassung. Das Transplantationssystem wurde völlig neu sortiert. Dies kostete viel Zeit. Deswegen schlug sich der Erfolg der Widerspruchsregel erst später in in den Spenderzahlen nieder.
MYTHOS 3: IN SPANIEN WIRD DAS WIDERSPRUCHSMODELL GAR NICHT ANGEWENDET: DORT WERDEN DIE ANGEHÖRIGEN NACH IHREM EINVERSTÄNDNIS GEFRAGT.
In Ländern mit der Widerspruchsregel werden die Angehörigen befragt, um den Willen des Verstorben zu erfahren, falls dieser zu Lebzeiten nicht widersprach. Mit der Widerspruchsregel geht zudem ein anderes Verständnis der Organspende einher: Diese ist der Normalfall. So wird auch das Arztgespräch über eine Organspende für die Angehörigen leichter. Entsprechend hoch ist in Spanien Zustimmungsquote der Angehörigen mit 85 Prozent. In Deutschland ist die Organspende die Ausnahme, daher wird das Gespräch über Organspende eher als Zumutung empfunden. Nur 22 Prozent der Angehörigen sind in Deutschland in dieser belastenden mit einer Organspende einverstanden.
MYTHOS 4: DIE BISHERIGEN STRUKTURREFORMEN HABEN NOCH DAS POTENZIAL DIE ZAHL DER ORGANSPENDEN ZU STEIGERN.
Nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Verbesserung der Zusammenarbeit und Strukturen bei der Organspende in 2019 sank die Zahl der Organspenden sogar. Nach dem Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft aus 2020 sollten Ärzte und Bürgerämter über die Organspende aufklären – jedoch sind beide überlastet. Das Organspende-Register trat verspätet in Kraft. Von diesem erwarten sich Experten auch keinen Anstieg der Spenderzahlen.
MYTHOS 5: EINE VERBESSERUNG DER STRUKTUREN IST AUCH OHNE DIE EINFÜHRUNG DER WIDERSPRUCHSREGEL MÖGLICH.
Zu Verbesserungen bei der Organspende gehört beides: eine Verbesserung der Strukturen im Gesundheitssystem und die Widerspruchsregel, die das Bekenntnis der Politik zur Organspende reflektiert. Wenn sogar der deutsche Gesetzgeber die Nicht-Spende als Normalfall betrachtet, warum sollten Kliniken anders mit der Organspende umgehen? Warum sollten Kliniken dann mit großem Eifer prüfen, ob eine Organspende medizinisch möglich wäre und ob die Angehörigen zustimmen? Die Einführung der Widerspruchsregel würde die Spende zum Normalfall erklären und die Kliniken dazu verpflichten, jeden Einzelfall auf Spendenbereitschaft zu prüfen.
MYTHOS 6: WIR WERDEN ALLE ZU ORGANSPENDERN, WENN WIR DEM NICHT WIDERSPRECHEN.
Die Wahrscheinlichkeit selbst eine rettende Organspende zu benötigen ist viermal höher, als selbst nach dem Tod zum Spender zu werden. Weniger als 0,5 Prozent aller Todesfälle kommen aufgrund der vorgeschriebenen Hirntod-Kriterien theoretisch für eine Organspende in Betracht – 99,5 Prozent nicht.
MYTHOS 7: ZUR ORGANSPENDE DARF ES NUR EIN BEWUSSTES JA ODER NEIN GEBEN. SCHWEIGEN IST KEINE ZUSTIMMUNG.
Wenn Schweigen keine Zustimmung ist, ist der Umkehrschluss genauso legitim: Schweigen bedeutet keine Ablehnung – insbesondere vor dem Hintergrund, dass laut Umfragen 85 Prozent der Deutschen der Organspende positiv gegenüberstehen. Es wäre also genau so erlaubt, in der Formulierung des Gesetzestextes eher von einer positiven Haltung auszugehen als von einer Ablehnung. Zumal auch mit der Widerspruchslösung jeder und jede seine Haltung zu einer potenziellen Spende formulieren kann.
MYTHOS 8: DIE WIDERSPRUCHSREGELUNG IST NICHT VERFASSUNGSKONFORM.
Das Bundesverfassungsgericht hat bereits vor Jahren festgestellt, dass man beim Thema Organspende nicht in seinen „Grundrechten bereits dadurch verletzt wird, dass man zur Abwehr der behaupteten Grundrechtsverletzungen einen Widerspruch erklären muss“.[2]
Auch angesichts der verfassungsrechtlichen Legitimität der Widerspruchsregelung hat der Bundesrat die Bundesregierung mit großer Mehrheit erneut aufgefordert, diese in Deutschland umzusetzen.
[2] VerfG (Beschluss vom 18. Februar 1999), NJW 1999: 3403, 3404.